Elias Canetti, der bulgarischer Literaturnobelpreisträger schrieb einst: »Man mag drei- oder viertausend Menschen gekannt haben, man spricht aber nur von sechs oder sieben.«
Prof. Dr. Hans Raffée ist am 11. Mai 2021 im Alter von 91 Jahren verstorben. Er war mir ein Freund, Mentor und tiefgründiger Ideengeber. Hans war eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Er hat Spuren in den Köpfen und Herzen der Menschen hinterlassen, die das Glück hatten, ihn kennenzulernen. Mit großer Dankbarkeit will ich drei Eigenschaften nennen, in denen er mir für immer ein Vorbild sein wird.
1. Ein rhetorisches Genie
Prof. Raffée ist der beste Rhetoriker, den ich in meinem Leben kennenlernen durfte. Ich erlebte ihn das erste Mal als einer von 800 anonymen Studierenden in der Vorlesung „Einführung in die Betriebswirtschaftslehre“ an der Universität Mannheim. Wenn Prof. Raffée unterrichtete, war es im riesigen vollbesetzten Vorlesungssaal A3 – still – . Falls jemand zu stören wagte, wurde er gleich von mehreren Seiten ermahnt. Niemand wollte Raffées mit großem Verve vorgetragene Gedanken verpassen. Ich habe mir seit meinen Studientagen viele Professional Speaker angeschaut, denn das ist mittlerweile meine eigene Profession geworden. Meine Redner-Kollegen und ich können Vorträge durch systematische Arbeit rhetorisch aufbereiten, damit sie kurzweilig und spannend sind. Was ich aber nicht kann und was Hans Raffée konnte ist, aus dem Stegreif über nahezu jedes Thema rhetorisch fesselnd zu sprechen. Seine Wortwahl war präzise und distinguiert, seine Metaphern klug und seine Geschichten so spannend, dass er seine Zuhörer regelmäßig in den Bann schlug, egal über was er gerade sprach. Er konnte das Wissen verschiedener Disziplinen spielend und spontan miteinander verknüpfen. Prof. Dr. Hans Raffée reflektierte in seinen Vorlesungen nicht nur über seine Profession, BWL und Marketing, sondern las uns Studierenden in den letzten 15 Minuten einer Doppelstunde oft einen Zeitungsausschnitt über gesellschaftliche Themen, Religion oder Kunst vor und formulierte im Anschluss seine eigenen Gedanken dazu. Er endete meist mit den Worten: „Meine Damen und Herren, tun Sie mir einen Gefallen und verblöden Sie hier nicht an der Universität. Betreiben Sie Studium Generale, hören Sie auch Vorlesungen bei den Philosophen und Historikern. Bilden Sie sich weit.“
Als großer Rhetoriker wird er vielen Generationen der Studierenden unvergessen bleiben.
2. Ein menschlicher Leuchtturm
Wir werden zwar als Menschen geboren, aber der Prozess der Menschwerdung geht ein Leben lang. Martin Buber schreibt: „Der Mensch kann dem Göttlichen nicht nahekommen, indem er über das Menschliche hinauslangt; er kann ihm nahekommen, indem er der Mensch wird, der zu werden er … erschaffen ist.“ Das höchste anzustrebende Ziel für die meisten Menschen ist die Weisheit im Alter. Karl Kraus schrieb einst: „In einen hohlen Kopf geht viel Wissen.“ Es gibt besonders im universitären Kontext viele Menschen, die sehr gebildet sind. Wissen alleine reicht aber nicht. Ein Mensch, der weise ist, verbindet das theoretische Wissen mit praktischer Lebensklugheit und Menschenliebe. Denken, Sprechen und Handeln einer solchen Person sind kongruent. In den Diskussionen mit Hans war ich immer wieder von seinen Gedanken verblüfft und inspiriert. Oft stellte er im wohlwollenden Ton und mit einem Lächeln im Gesicht Fragen, um sein Gegenüber zu eigenen Erkenntnissen zu bringen, anstatt sie ihm direkt zu servieren. Er sah das Beste in den Menschen und sprach genau diesen Teil an. Hans Raffée war ein Menschenfreund, ein Altruist. Er ist die einzige Person, die ich persönlich kennenlernen durfte, für die mir der Begriff „weise“ treffend erscheint.
Als ein außergewöhnliches Vorbild an Lebensklugheit werden ihn viele Menschen vermissen.
3. Ein wahrer Christ
Bekennende Christen werden heutzutage von manchen Menschen als naiv eingeschätzt. Dieses Urteil hätte sich bei Hans Raffée wohl niemand erlaubt. Ich hörte ihn einmal zu Beginn eines Kolloquiums 15 Minuten darüber referieren, warum man, selbst wenn es gar keinen Gott gäbe, gut beraten sei, die Ideen von Jesus Christus zu praktizieren. Er argumentierte mit der Erkenntnistheorie von Karl Popper und begründete dezidiert und stringent, wie man Poppers Gedanken auf die Frage „Ist es sinnvoll, nach christlichen Maßstäben zu leben?“ übertragen kann. Das Ergebnis war, dass es sehr sinnvoll ist und zu einem guten Leben beiträgt. Raffée war ein gebildeter Christ, der sich zeitlebens gerne mit Geistlichen austauschte und Religion als ein breites intellektuelles Feld sah. Als Sprach-Magier und Intellektueller begegnete er auch Menschen mit wenig Bildung stets auf Augenhöhe und mit viel menschlicher Wärme. Hans war ein praktizierender Christ. Jeder mochte den freundlichen alten Herrn mit dem verschmitzten Lächeln und den gütigen Augen. Er half Menschen in Not durch Zuhören, Zuspruch und nicht selten auch mit nicht unerheblichen Geldbeträgen. Er lebte das Gebot der christlichen Nächstenliebe im Alltag.
Ein wahrer Christ ist zu seinem Herrgott gegangen. Seine Spuren bleiben in den Herzen vieler Menschen.
Es gäbe noch so vieles mehr zu sagen, aber dieser Nachruf ist ein persönlicher und soll nicht sein Leben zusammenfassen. Wie zu Beginn zitiert, gehört Hans Raffée zu den ganz wenigen Menschen, an die ich mich ein Leben lang erinnern werde. Er wird mir für immer ein Vorbild sein.
Ebenfalls ein Vorbild ist mir unser gemeinsamer Freund Günter Grüchta geworden, der Hans in den letzten Jahren mehrmals in der Woche und später sogar täglich begleitet und betreut hat. Um sich um Hans zu kümmern, musste er von seinem Zuhause bis nach Mannheim stets zweieinhalb Stunden Auto fahren. Was er geleistet hat, lässt sich mit Worten nur schwer beschreiben. Mit seiner ruhigen souveränen Art, seiner unbedingten Loyalität und seiner Lebenserfahrung ist er mir ebenfalls ein Vorbild geworden.

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